Wie ein Tritt zwischen die Beine

Der Weg ist das Ziel, aber selbst damit haben die Begleiter schon ihre Pro­bleme. Das Ziel heißt Café Royal“, eine Fan­kneipe für Ein­tracht-Frank­furt-Anhänger, Exil­hessen und Lieb­haber hes­si­scher Gau­men­freuden. Das Pro­jekt heißt Klas­sen­er­halt, die Ein­tracht spielt gegen Borussia Dort­mund und muss gewinnen, will sie der Bun­des­liga erhalten bleiben. Zweimal ver­laufen wir uns zwi­schen den Bahn­gleisen an der War­schauer Straße, Berlin-Fried­richs­hain. Dann end­lich taucht ein bul­liger Kerl mit Frank­furt-T-Shirt und Bull­doggen-Gesicht auf, er bellt uns den Weg und wir finden das Ziel. Die erste Mis­sion, sie ist erfolg­reich abge­schlossen. Das Pro­jekt Klas­sen­er­halt beginnt mit einer mäch­tigen Rinds­wurst und dem hes­si­schen Natio­nal­ge­söff Ebbelwoi. Wer einen Apfel­wein“ bestellt, ist hier eigent­lich falsch.

Fan­kneipen“ sind eigent­lich längst über­reif für aus­gie­bige sozio­lo­gi­sche Stu­dien. Hier ver­ei­nigen sich Men­schen auf ein paar Qua­drat­meter, die a) keine Karte fürs Sta­dion bekommen haben, b) keine Lust aufs Sta­dion haben, c) ein­fach zu weit vom Sta­dion ent­fernt wohnen, d) Fuß­ball alleine gucken lang­weilig finden, e) ein­fach mal wieder Bock haben, wüst rum­zu­brüllen, oder f) es lieben, sich all diese Men­schen und ihre Beweg­gründe in die Fan­kneipe zu gehen, zu beob­achten. Steht dann auch noch so viel auf dem Spiel wie heute (der Ver­bleib in der deut­schen Eli­te­klasse) schmeckt die Luft im Knei­pen­bauch wie eine Mischung aus fal­scher Fröh­lich­keit, auf­kei­mender Panik und durch den Wolf gedrehten Durch­hal­te­pa­rolen. So wie sich meine Begleiter, frisch zuge­zo­gene Mit­tel­hessen, jetzt fühlen, unter­scheiden sie sich nur wenig von puber­tie­renden Jungs vor dem ersten Date: Vor­freude, Angst, gespielte Über­heb­lich­keit, ein Spritzer Geil­heit – alles ist dabei.

Wie Charly Körbel nach Offen­bach

Noch eine Stunde. Das Café Royal“ füllt sich mit Mitz­wan­zi­gern, die rein optisch zu han­dels­üb­li­chen Frankurt-Fan-Kneipen (siehe: Hes­sen­stüb­chen“, Hes­seneck“ o.ä.) so gut passen würden wie Charly Körbel zu Kickers Offen­bach. Dit is Balin – immer eine Spur zu gut ange­zogen, die Brillen immer eine Spur zu groß, der Drei­ta­ge­bart immer eine Spur zu gut getrimmt, ganz klar: Es fehlt der Dreck, der Schmutz, der im Klas­sen­kampf nun einmal nötig ist. Wo ist der Fett­sack mit der spe­ckigen Kutte und der ehe­ma­lige Platz­wart ohne Vor­der­zähne, der einem unge­fragt Geschichten erzählt aus Zeiten, die mal besser waren? Damit kon­fron­tiert, lächeln meine beiden Begleiter nur fahl, sie sind längst in ihrer eigenen Welt. In dieser rosa­roten Erd­beer­land­schaft schießt Halil Altintop heute zwei Tore („Der Halil zahlt heute alles zurück!“), wird Chris­toph Daum doch noch zum Mes­sias („Der Daum zahlt heute alles zurück!“) und sind die Spieler von Borussia Dort­mund eh noch total besoffen. Zag­hafte Ein­wände, Dort­munds Meis­ter­ki­cker hätten ihren Fans ver­spro­chen, ja sogar geschworen, sich mit einem Sieg aus der Saison zu ver­ab­schieden, werden mit irren Bli­cken abge­straft. Ver­nunft ist im Kampf gegen den Abstieg ein Schwach­sinns­ar­gu­ment. Und Stroh­hälme werden gegriffen und fest umklam­mert, mögen sie noch so dünn und zer­brech­lich sein.

Als das Spiel beginnt, ist das Café Royal“ längst voll und der dritte Bembel Ebbelwoi längst geleert. Das Frank­furter Hirn ist vor lauter Abstiegs­angst, Stroh­halm­grei­ferei und süß­saurem Alkohol aus der Heimat auf­ge­weicht und muss jetzt auch noch 90 Minuten über­stehen. Ich, heim­lich beob­ach­tend von meinem geis­tigen Jäger­sitz, emp­finde Mit­leid. Natür­lich drücke ich den Frank­fur­tern die Daumen, aber die Typen auf dem Rasen und der Typ im kack­braunen Sakko, der die Typen auf dem Rasen trai­niert, sind mir eigent­lich piep­egal. Aber diesen Jungs und Mädels und natür­lich auch den Jungs und Mädels im Sta­dion wünscht ihn diesem Augen­blick nur ein schlechter oder ein Offenbacher/​Kaiserslauterer/​Mannheimer Mensch den Abstieg aus der Bun­des­liga. Um wieder den Ver­gleich mit dem ersten Date zu wagen: Das wäre so, als wün­sche man dem Jüng­ling einen Tritt in die noch haar­losen Eier statt einen feuchten Zun­gen­kuss.

Doch der Tritt in die Weich­teile folgt schon nach gut zehn Minuten. Ben­jamin Köhler, aus­ge­rechnet Köhler, der doch eigent­lich auch alles zurück­zahlen“ sollte, foult Dort­munds Jakub Blaszc­zy­kowski so blöde, dass Schieds­richter Peter Gagel­mann auf Elf­meter ent­scheiden muss. Ent­setzen im Café Royal“, Hass­ti­raden auf Köhler, den Schieds­richter, die gemeine Welt, das fiese Schicksal. Dann schießt Bar­rios und Frank­furts Tor­wart Ralf Fähr­mann hält den Ball und aus schwei­gendem Weh­klagen wird lautes Jubel­ge­heul. Der Fähr­mann! Der hält heute alles! Der Bar­rios – besoffen, hab ich doch gesagt! Die Ein­tracht: Kann heute gar nicht absteigen! Das Fern­sehen zeigt die jubelnden Frank­furter im West­fa­len­sta­dion und die Menge im Ber­liner Knei­pen­bauch erkennt die Lei­dens­ge­nossen durch die viel zu großen Brillen und gröhlt via Lein­wand ein paar Stam­mes­rufe in Rich­tung Dort­mund. Frank­furter Fans, zwi­schen Berlin und Dort­mund im Geiste und Leiden ver­eint, stri­cken ver­bale Freund­schafts­bänd­chen und der Klas­sen­er­halt hängt nach Fähr­manns Parade plötz­lich am selbst gewebten Faden. Immerhin: Vorher war da über­haupt kein Faden zu sehen.

Män­ner­schweiß stinkt plötz­lich nicht mehr nach Angst

Pause. Fri­sche Luft. Ein neuer Bembel. Viel­leicht zwei. Small­talk, weil reden manchmal hilft. In Ham­burg führt Mön­chen­glad­bach mit 1:0, Hof­fen­heim gegen Wolfs­burg unent­schieden. Im Moment ist die Ein­tracht abge­stiegen. Aber der Moment kann alle mal, denn jetzt geht die zweite Halb­zeit los.

Und wie sie los­geht! 1:0 durch Sebas­tian Rode! Der Knei­pen­bauch wackelt wie ein Pud­ding bei Erd­beben. Selbst der Kerl mit dem gebro­chenen Bein ver­gisst bei lauter Euphorie den dicken Gips und wird erst von der Schwer­kraft wieder an seine Behin­de­rung erin­nert. Hoff­nung, Tanz und Tral­a­lala, unsicht­bare Stroh­hälme fliegen durch die Luft und der Män­ner­schweiß stinkt plötz­lich nicht mehr nach Angst. Alles wird gut. Wenn denn jetzt schon Schluss wäre. Und plötz­lich klin­geln ein paar Handys, aus unter­schied­li­chen Ecken der Kneipe wabert die Nach­richt durchs Bem­bels­au­fende Volk: Hof­fen­heim führt gegen Wolfs­burg mit 1:0, die Ein­tracht auf dem Rele­ga­ti­ons­platz. So ein Tag so wun­der­schön!

Der Galgen ist gebro­chen. Aber die Henker haben Zeit

Doch, herrje, es kommt ja alles anders. Nach 68 Minuten schießt Bar­rios, stock­nüch­tern, erst das 1:1, vier Minuten später sto­chert Frank­furts Marko Russ den Ball ins eigene Tor und was fünf Minuten vorher noch ein Tag so wun­der­schön wie heute war, ist plötz­lich so wider­lich wie ein Eimer fri­scher Kotze. Es kommt noch schlimmer: Chris­toph Daum pfeift ganz offen­sicht­lich darauf, dem Frank­furter Anhang auch nur irgendwas zurück­zu­zahlen und schickt zehn Minuten vor dem Ende einen schüch­ternen Milch­bubi namens Marcel Titsch-Rivero auf den Platz, statt end­lich den stür­menden Rou­ti­nier und 54-fachen Bun­des­li­ga­tor­schützen Ioannis Amana­t­idis zu bringen.

Zwei Minuten später stol­pert Titsch-Rivero Marcel Schmelzer in die Beine, fliegt vom Platz und Dort­mund bekommt wieder einen Elf­meter. Im Café Royal“ schaffen es die bedau­erns­werten Geschöpfe nicht mal mehr wütend zu werden. Einer beginnt wie irre zu lachen und eigent­lich fehlt hier jetzt nur noch ein Klein­kind, dass herz­er­grei­fend anfängt zu heulen. Kluge Eltern: Dieses Spiel haben sie ihrem Nach­wuchs erspart. Die grau­same Welt werden sie ohnehin noch früh genug ken­nen­lernen. Wieder hält Fähr­mann den Ball und wieder wird geju­belt, aber eigent­lich weiß jeder, dass die Hin­rich­tung der eigenen Mann­schaft nur ver­zö­gert wurde, nicht ver­hin­dert. Der Galgen ist gebro­chen, aber die Henker haben die Zeit auf ihrer Seite.

Dort­mund ist grausam, wie es nur ein Deut­scher Meister sein darf. Erst in der 90. Minute köpft Bar­rios das 3:1 und zer­schmet­tert end­lich jeden letzten Rest an Hoff­nung, den sich der treue Ein­tracht-Fan der eigenen Würde wegen bis zum bit­teren Ende bewahrt hat. Es ist vorbei und nicht zu fassen: Ein­tracht Frank­furt ist abge­stiegen. Das Café Royal“ in Berlin-Fried­richs­hain leert sich schnell und draußen vor der Tür beginnen die Ersten schon wieder lachenden Klön­schnack. Sie waren offenbar nur als Frank­furt-Fans ver­klei­dete Schau­lus­tige hier. Ein Drama mehr oder weniger fällt in dieser Stadt ohnehin nicht ins Gewicht.

Um 22 Uhr: DJ Scheiß­egal und seine Schwester“

Meine Begleiter aber sind auch nach 15 Minuten War­te­zeit noch immer nicht dem letzte Rauch­reste aus­hus­tenden Knei­pen­bauch ent­stiegen. Sor­gen­voll mache ich mich auf die Suche und finde zwei ein­same Häuf­chen Elend vor einer stummen Groß­bild­lein­wand. Besoffen, sämt­li­chen Stroh­halmen und Hoff­nungs­schim­mern beraubt, betroffen – jetzt heißt es ange­messen sein Mit­ge­fühl aus­zu­drü­cken. Ich ent­scheide mich für den guten alten Hin­ter­kopf-Tätschler, zwei Hände erheben sich zum schlaffen Gruß. Es ist der 14. Mai 2011, 17:30 Uhr und Ein­tracht Frank­furt ist abge­stiegen. Das Knei­pen­pro­gramm verrät: Um 22 Uhr legen heute DJ Scheiß­egal und seine Schwester“ auf. Für diese Wahl kann man den Wirt nur gra­tu­lieren.

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